offene Form

offene Form
offene Form,
 
1) Kunstwissenschaft: 1915 von H. Wölfflin geprägter Begriff zur Analyse der Stilentwicklung der neueren Kunst (»Kunstgeschichtliche Grundbegriffe«); Wölfflin stellte insgesamt fünf Stilphänomene beschreibende begriffliche Gegensatzpaare einander gegenüber, die wesentlich und charakterisierend sind für Gestaltung, Komposition und Wirkung von Kunstwerken: offene und geschlossene Form (auch tektonisch und atektonisch), linear und malerisch, Fläche und Tiefe, Vielfalt und Einheit, Klarheit und Unklarheit. Wölfflins Untersuchungen galten v. a. der Entwicklung von Renaissance und Barock. Die offene Form ist eines der Charakteristika des Barock. So bewirkt die Verwendung der Diagonalen in der barocken Malerei Veränderung und Fluss der Bewegung der Formenwelt, die den Blick über den Bildrahmen hinauszieht; auch z. B. die Weite einer Landschaft macht den Bildrahmen zufällig, verleugnet ihn. Dagegen ist die geschlossene Form eines der Charakteristika der vorangehenden Renaissancekunst und dann wieder der Kunst des nachfolgenden Klassizismus.
 
 2) Literatur: in die Poetik übertragener Begriff für literarische Werke, die im Gegensatz zur geschlossenen Form keinen streng gesetzmäßigen Bau zeigen. Solche Kunstwerke finden sich v. a. in Epochen und Stilrichtungen, die in Opposition zu klassischen Mustern und normativer Poetik stehen, etwa im Sturm und Drang, in der Romantik, im Expressionismus. Charakteristische Stilform ist die Parataxe, das lockere Aneinanderfügen von Einzelaussagen, unvollendete Sätze usw. An die Stelle der typisierenden, gehobenen, einheitlichen Sprache der geschlossenen Form tritt die individualisierende, dem jeweiligen Sprecher angemessene Sprache. Dem Stilprinzip der Parataxe entspricht das Bauprinzip der nebengeordneten Teilaspekte, also etwa die Betonung der Einzelszene (z. B. Goethes »Faust«) im Gegensatz zur Bedeutung der Akte und der drei Einheiten im Drama der geschlossenen Form.
 
 3) Musik: eine gegen Ende der 1950er-Jahre geprägte Bezeichnung für Kompositionen, deren Endgestalt der Komponist nicht festgelegt, sondern der jeweiligen Aufführung überlassen hat, sodass der Interpret an der erklingenden Form mitbeteiligt ist. Dabei handelt es sich um Werke, bei denen Details verändert werden können, die Reihenfolge der Einzelabschnitte aber festgelegt ist (K. Stockhausen, »Zyklus«, 1959; L. Berio, »Circles«, 1960) oder umgekehrt (P. Boulez, 3. Klaviersonate, 1957) oder bei denen sowohl die Zusammensetzung des vorgegebenen Spielmaterials als auch die Reihenfolge der Einzelabschnitte offen gelassen ist (J. Cage, Klavierkonzert, 1957/58).

Universal-Lexikon. 2012.

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